
- von Andreas Rinke
Brüssel, 05. Dez (Reuters) - Das Ringen um die weitere Finanzierung des ukrainischen Abwehrkampfes gegen Russland geht in der EU in die Endphase. Bis zum EU-Gipfel am 18. und 19. Dezember will Bundeskanzler Friedrich Merz eine positive Entscheidung über die Nutzung des eingefrorenen russischen Staatsvermögens in der EU für die Ukraine erreicht haben. Die EU-Kommission hat am Mittwoch entsprechende Rechtstexte vorgelegt. Aber es bleiben viele Fragen offen bei einem Thema, das Merz als entscheidend für die Souveränität Europas bezeichnet und das neben Russland mittlerweile auch die US-Regierung auf den Plan gerufen hat.
UM WIE VIEL GELD GEHT ES?
In der EU liegen Hunderte Milliarden Euro russischen Staatsvermögens, vor allem in Belgien bei dem Finanzdienstleister Euroclear. Das Geld wurde nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 eingefroren. In der Debatte schwankt die genannte Höhe dieses Vermögens zwischen 200 und 250 Milliarden Euro. Einig scheint man sich zu sein, dass mittlerweile etwa 185 Milliarden Euro in bar bei Euroclear liegen, weil die Laufzeit ihrer Anlageformen abgelaufen ist - der Betrag soll in den kommenden Monaten sogar steigen, weil dann weitere Geldanlagen auslaufen.
Bisher werden nur Erträge - etwa Zinszahlungen - aus den russischen Geldanlagen dafür verwendet, um einen 50 Milliarden-Euro-Kredit an die Ukraine zu finanzieren, aber nicht das Geld selbst. Von den 185 Milliarden Euro bei Euroclear sollen deshalb 45 Milliarden dafür reserviert bleiben, diesen Kredit abzulösen - bleiben also 140 Milliarden Euro. Nimmt man aber in den anderen EU-Ländern liegende russische Staatsanlagen hinzu, kommt man auf die 165 Milliarden Euro, die Merz nun in einem Gastbeitrag der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erwähnt hat. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, zunächst mit 90 Milliarden Euro zu beginnen, weil die Ukraine nicht sofort das ganze Geld braucht.
WARUM BEGINNT DIE DEBATTE JETZT?
Deutschland hatte lange sehr reserviert auf Vorschläge zur Nutzung des eingefrorenen russischen Geldes für die Ukraine reagiert. Zum einen gab es Bedenken, dass der Finanzstandort EU leiden könnte, wenn ausländische Regierungen fürchten müssen, dass ihr Geld konfisziert wird. Zum anderen wollte man das Geld als Druckmittel gegen die russische Regierung nutzen, wenn es um einen Friedensschluss und den Wiederaufbau der Ukraine geht.
Jetzt hat die Bundesregierung ihre Position geändert - aus der Not heraus. Zum einen haben die USA unter Präsident Donald Trump ihre Hilfe für die Ukraine weitgehend gestoppt. Zum anderen haben die meisten großen überschuldeten EU-Staaten keine Möglichkeit, höhere Militärhilfe für die Ukraine aus ihren nationalen Haushalten zu zahlen. Die Bundesregierung hat Sorge, dass Deutschland als der mittlerweile größte Unterstützer der Ukraine ohne diesen Weg sehr viel mehr nationales Geld bereitstellen müsste. Russland soll zugleich gezeigt werden, dass die Europäer die Ukraine auch in den nächsten Jahren finanziell stützen.
WIE SOLLEN DIE MILLIARDEN AKTIVIERT WERDEN?
Die EU-Kommission und die Bundesregierung haben ein kompliziertes Verfahren vorgeschlagen: Danach werden die liquiden Mittel genutzt, damit Euroclear Anleihen der EU-Kommission kauft und diese einlagert. Der Ukraine wiederum werden die Milliarden als zinslose Kredite gegeben. Diese soll das Land erst dann zurückzahlen, wenn Russland am Ende des Krieges - wie erhofft - Reparationen zahlt. Weil aber unklar ist, ob diese Rückzahlung möglich sein wird und weil auf jeden Fall eine Enteignung Russlands vermieden werden soll, sollen die 27 EU-Staaten die EU-Anleihen aus ihren nationalen Haushalten mit Garantien absichern. Das heißt, sie müssten einspringen, wenn das Geld nicht zurückgezahlt würde.
Auf Deutschland käme je nach Höhe des genutzten Geldes eine Garantie in zweistelliger Milliardenhöhe zu - weshalb wahrscheinlich auch der Bundestag seine Zustimmung geben müsste. Die Bundesregierung schlägt vor, dass diese nationalen Garantien 2028 mit dem neuen EU-Finanzrahmen in Garantien aus dem EU-Haushalt übergehen. Dort läge dann das Risiko eines Ausfalls.
WOFÜR SOLLEN DIE MILLIARDEN VERWENDET WERDEN?
Die Bundesregierung besteht darauf, dass die Milliarden Euro nur für Militärausgaben der Ukraine ausgegeben werden sollen. Es geht um ein politisches Signal an die Führung in Moskau: Russlands Präsident Wladimir Putin müsse trotz einiger Geländegewinne begreifen, dass er den Krieg mit der Ukraine nicht einfach "aussitzen" oder auf einen Sieg hoffen könne, heißt es. Der militärische Finanzbedarf der Ukraine wird auf 50 bis 70 Milliarden Euro jährlich geschätzt - und wäre übrigens auch nach einem Waffenstillstand hoch. Mit dieser Hilfe könnte das Land also zwei, drei Jahre ohne Sorgen um eine Finanzierung des Militärs weiterkämpfen.
WO GIBT ES NOCH WIDERSTAND IN DER EU?
Belgiens Ministerpräsident Bart De Wever hat immer wieder Garantien gefordert, damit sein Land nicht alle Risiken trägt, weil Euroclear in Belgien sitzt. Alle EU-Mitglieder müssten ihren Beitrag leisten, falls das Geld zurückgezahlt werden müsse oder Sanktionen gegen Belgien erhoben würden. Zudem müsse jedes Land, das russische Vermögenswerte eingefroren habe, im gleichen Tempo voranschreiten. "Wir wissen, dass es in anderen Ländern, die sich dazu immer ausgeschwiegen haben, riesige Mengen an russischem Geld gibt", sagte er. Dies ist ein Grund, warum Merz nun auch die Nutzung der Staatsvermögen in anderen EU-Staaten vorschlägt und deshalb auf einen möglichen Kredit in Höhe von 165 Milliarden Euro kommt.
WAS MACHEN DIE USA?
Merz betont, dass die Friedensbemühungen von Trump keinen Einfluss auf die Planungen haben. Zum einen sitzt der Zweifel tief, dass Putin überhaupt einen Waffenstillstand akzeptieren würde. Zum anderen betonte Merz am Donnerstag erneut, dass dies eine europäische Angelegenheit sei. Die Ukraine müsse auf jeden Fall weiter finanziert werden. Im ursprünglichen 28-Punkte-Plan der US-Regierung erheben aber auch die USA Anspruch auf die eingefrorenen russischen Gelder.
"Ich sehe keine Möglichkeit, in irgendeiner Form ökonomisch das Geld, das wir dann mobilisieren, den Vereinigten Staaten von Amerika zukommen zu lassen. Und das weiß die amerikanische Regierung", betonte Merz. Die US-Regierung droht den Europäern trotzdem, weil der Plan die eigenen Bemühungen um einen "Deal" unterlaufen würde. Die USA sind im westlichen Lager mit ihren Versuchen für Sonderabsprachen mit Russland aber isoliert, was sich auch auf dem letzten G20-Gipfel zeigte.
WAS KANN RUSSLAND TUN?
Die russische Regierung hat immer wieder mit Gegenmaßnahmen gegen Personen und Länder gedroht, sollte die EU die eingefrorenen Milliarden nutzen. Aber die Drohungen haben nur begrenzte Wirkung. Die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zwischen Russland und der EU sind bereits drastisch zurückgefahren worden, sodass es dort für Moskau kaum noch einen Hebel für Bestrafungen gibt - was allerdings von EU-Land zu EU-Land unterschiedlich ist. Einreisesperren sind wirkungslos, weil kaum jemand Reisen nach Moskau plant oder dort noch Vermögen deponiert hat.
Aber es gibt auch andere Drohungen: Der belgische Ministerpräsident De Wever sagte, dass der Chef des Finanzinstituts Euroclear rund um die Uhr unter Polizeischutz stehe. Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates und Hardliner in Moskau, droht der EU zudem mittlerweile offen mit Krieg - allerdings nicht zum ersten Mal.