Berlin, 05. Sep (Reuters) - Die deutsche Industrie ist überraschend schlecht in die zweite Jahreshälfte gestartet. Die Neuaufträge fielen im Juli um 2,9 Prozent niedriger aus als im Vormonat, wie das Statistische Bundesamt am Freitag mitteilte. Das war bereits der dritte Rückgang in Folge und zugleich der größte seit Januar. Von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Ökonomen hatten dagegen mit einem Wachstum von 0,5 Prozent gerechnet. In ersten Reaktionen hieß es:
MICHAEL HERZUM, LEITER VOLKSWIRTSCHAFT UNION INVESTMENT:
"Die deutsche Industrie muss erneut einen Tiefschlag wegstecken. Ein Blick in die Details zeigt jedoch, dass es vor allem einzelne Großaufträge waren, die im Juli ausblieben und damit die Statistik verzerrten. Ohne diese lag das Ordervolumen mit 0,7 Prozent leicht im Plus. Ohne den verzerrenden Effekt der Großaufträge aus dem Bereich Sonstigen Fahrzeugbaus, darunter fallen auch Bestellungen für das Militär, sind die Daten ein schwaches Lebenszeichen der hiesigen Industrie.
Weitere Verzerrungen gibt es durch die US-Zollpolitik, die bei den Auslandsaufträgen weiterhin das Bild prägt und ebenfalls belasten. Aus Sorge vor der Einführung neuer Importzölle hatten viele US-Unternehmen ihre Bestellungen vorgezogen. Dies führte seit dem Frühjahr zu einer Art Sonderkonjunktur bei den deutschen Aufträgen.
Der im August ausgehandelte Zoll-Deal zwischen den USA und der EU spielt bislang noch keine Rolle für die deutsche Industrie. Die Vereinbarung sorgt zwar für mehr Planbarkeit, wovon die Unternehmen in Form einer höheren Investitionsbereitschaft profitieren. Positive Effekte erwarten wir jedoch erst im weiteren Jahresverlauf."
CYRUS DE LA RUBIA, CHEFVOLKSWIRT HAMBURG COMMERCIAL BANK:
"Die Industrie tut sich schwer damit, nachhaltig mehr Aufträge einzusammeln. Man mag sich damit trösten, dass der deutliche Auftragseinbruch im Juli auf Großaufträge zurückzuführen war, die unter anderem aus den Bereichen Flugzeuge, Schiffe, Züge und Militärfahrzeuge kommen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Auftragseingänge schon seit dem Beginn 2024 unter dem langfristigen Durchschnitt liegen. Dazu kommt, dass Großaufträge auch für kleine Unternehmen wichtig sind, weil aus ihnen Folgeaufträge für Zulieferer entstehen.
Der Rückgang fand – und das ist besonders unerfreulich – geografisch in der Breite statt. Sowohl im Inland als auch im europäischen und dem außereuropäischen Ausland sank die Nachfrage. Der Investitionsbooster der Bundesregierung, in der Form der beschleunigten Abschreibungen, hat offensichtlich noch nicht gezündet. Die Perspektiven sind dennoch nicht so schlecht, denn in dem Haushalt 2025 ist ein Plus von 55 Prozent bei den Investitionen vorgesehen. Das sollte sich in den nächsten Monaten in Form einer höheren Nachfrage nach Investitionsgütern niederschlagen."
THOMAS GITZEL, CHEFVOLKSWIRT VP BANK:
"Beim ersten Blick auf die Auftragseingänge kann es einem angst und bange werden. Doch der genaue Blick sorgt für Erleichterung. Klammert man die volatilen Großaufträge aus, setzt sich die träge Erholung der Auftragssituation fort. Erstaunlich ist die Tatsache, dass trotz der von Donald Trump verhängten Zölle die Auftragseingänge überhaupt einen positiven Trend ausweisen. Und ganz generell gilt für das deutsche Verarbeitende Gewerbe: Die deutsche Wirtschaft kann den Zollquerelen trotzen. Wichtige Konjunkturfrühindikatoren wie etwa der Ifo-Geschäftsklimaindex oder der Einkaufsmanagerindex sind in den vergangenen Monaten gestiegen. Bei allen negativen Meldungen über die deutsche Wirtschaft sollte dies nicht vergessen werden."
JENS-OLIVER NIKLASCH, LBBW:
"Die Zahlen unterstreichen, dass nach einem zunächst hoffnungsvollen Frühjahr die Konjunktur wieder den Rückwärtsgang eingelegt hat. Dass die Juni-Zahl nach oben revidiert wurde und es unter Auslassung der Großaufträge ein kleines Plus gab, mag etwas trösten, die Gesamtschau bleibt aber negativ. Es ist nicht nur der Effekt der US-Zollpolitik, auch die Aufträge aus dem Euroraum waren im Juli deutlich rückläufig. Im Moment fehlt die Fantasie, woher jenseits eines kurzlebigen Fiskalimpulses ein länger anhaltender Konjunkturaufschwung in Deutschland gespeist werden soll."
JÖRG KRÄMER, COMMERZBANK-CHEFVOLKSWIRT:
"Die deutschen Auftragseingänge sind im Juli gestiegen, wenn man die stark schwankenden Großaufträge ausklammert. Das ist ein positives Signal. Allerdings weist der Trend bei den Orders anders als bei weichen Stimmungsindikatoren wie dem Ifo-Geschäftsklima noch immer nicht klar nach oben. Die harten Konjunkturdaten haben in den letzten Monaten in der Summe enttäuscht. Wir erwarten für das kommende Jahr nur deshalb ein deutliches Plus von 1,4 Prozent, weil die Bundesregierung viel mehr Geld ausgeben wird und die EZB ihre Leitzinsen halbiert hat."
ALEXANDER KRÜGER, CHEFVOLKSWIRT HAUCK AUFHÄUSER LAMPE:
"Mit ihrem starken Rücksetzer ist die Auftragslage auf dem Boden der Tatsachen zurück. Problematisch ist, dass der Vorjahresvergleich wieder in den Minusbereich gekippt ist. Dass der Auftragseingang ohne Großaufträge leicht im Plus ist, ist ein schwacher Trost. Der Niveauverlust bleibt beachtlich, er senkt den Daumen für die schon niedrige Kapazitätsauslastung. Die US-Zölle und die sich ändernde Weltordnung bleiben für die Industrie vorerst belastend. Der Druck zum Beschäftigungsabbau dürfte mindestens bestehen bleiben."