Berlin, 05. Jun (Reuters) - Die Europäische Zentralbank (EZB) setzt angesichts der sinkenden Inflation und der schwachen Konjunktur im Euroraum ihren Zinssenkungskurs fort. Der EZB-Rat um Notenbankchefin Christine Lagarde beschloss am Donnerstag, den am Finanzmarkt maßgeblichen Einlagensatz, der Leitzins im Euroraum, um einen Viertelpunkt auf 2,00 Prozent nach unten zu setzen. Diesen erhalten Geldhäuser, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Gelder parken. Seit die Währungshüter Mitte 2024 auf einen Lockerungskurs umgeschwenkt waren, ist dies bereits die achte Zinssenkung.
Finanzexperten sagten dazu:
MARCEL FRATZSCHER, PRÄSIDENT DIW:
"Die Zinssenkung der EZB wurde so erwartet und ist das Resultat einer sich weiter abschwächenden Wirtschaft im Euroraum. Die zentrale Frage ist, ob und um wie viel die EZB die Zinsen weiter senken muss, um ihr Ziel der Preisstabilität weiterhin zu erfüllen und die schwache Wirtschaft besser zu unterstützen.
EZB-Präsidentin Lagarde hat sich zu dieser Frage bedeckt gehalten, obwohl ein klares Signal für weitere Zinssenkungen die Finanzierungsbedingungen verbessert hätte, was viele willkommen geheißen hätten. Die Entwicklung der Preise und der Wirtschaft lassen weitere Zinssenkungen um 50 Basispunkte bis zum vierten Quartal dieses Jahres notwendig erscheinen, zumal die EZB ihre Inflationsprognose für 2026 auf 1,6 Prozent gesenkt hat, was deutlich unter dem Preisstabilitätsziel liegt."
VOLKER TREIER, CHEFANALYST DER DEUTSCHEN INDUSTRIE- UND HANDELSKAMMER (DIHK):
"Die von der Europäischen Zentralbank heute beschlossene Zinssenkung kann ein Impuls zur Stärkung des hierzulande so dringend benötigten Wachstums sein. Das Inflationsumfeld lässt diesen Schritt auch passend erscheinen. Allerdings bleiben die weltwirtschaftlichen Risiken für ein Anspringen der Konjunktur hoch. Vor allem die Folgen der US-amerikanischen Handelspolitik verunsichern nach wie vor die internationalen Märkte. Umso wichtiger ist es, dass die neue Bundesregierung Tempo macht bei den Maßnahmen, die die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hierzulande verbessern - um die geldpolitische Vorleistung der EZB auch zu rechtfertigen."
OLIVER KOHNEN, GESCHÄFTSFÜHRER BAUFI24 BAUFINANZIERUNG:
"Auch wenn EZB-Präsidentin Christine Lagarde in der Vergangenheit immer wieder betonte, man werde weiter datenbasiert und mit ruhiger Hand agieren, mehren sich die Signale, dass der Zinssenkungszyklus nun auf die Zielgerade einbiegt. Zwar rechnen viele Marktteilnehmer mit einem möglichen finalen Zinsschritt auf 1,75 Prozent, doch das Fenster für weitere Senkungen schließt sich schneller, als es noch zu Jahresbeginn schien. Die Bauzinsen, die nach der Bundestagswahl noch kurzzeitig nach oben geschossen waren, notieren nun aktuell wieder recht stabil an der Marke von 3,5 Prozent. Allerdings drohen mit einer Rückkehr der Inflation entsprechend wieder höhere Zinsen und damit ein geldpolitisches Worst-Case-Szenario. Steigende Bauzinsen würden dann nämlich auf moderat steigende Immobilienpreise treffen – insbesondere in begehrten Lagen."
ULRICH REUTER, PRÄSIDENT DES DEUTSCHEN SPARKASSEN- UND GIROVERBANDS (DSGV):
"Damit tut die Notenbank genau das Richtige. Mitten in einer Phase steigender geopolitischer Spannungen und sinkender Investitionsbereitschaft hält die Notenbank klaren Kurs und setzt ein wichtiges Zeichen der Stabilisierung. Geldpolitik kann keine Handelskrisen lösen – aber sie kann helfen, wirtschaftliche Folgewirkungen abzufedern. Genau das tut die EZB heute. Sollte sich im weiteren Jahresverlauf zusätzlicher Spielraum ergeben – etwa durch anhaltend niedrige Inflationsraten – muss die Notenbank bereit sein, diesen konsequent zu nutzen. Vor allem, um dringend nötige Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Klimaschutz nicht durch hohe Finanzierungskosten auszubremsen."
HEINER HERKENHOFF, HAUPTGESCHÄFTSFÜHRER DES BUNDESVERBANDS DEUTSCHER BANKEN (BDB):
"Inzwischen gibt es sehr gute Gründe, über den Sommer hinweg erstmal auf weitere Zinsschritte zu verzichten. "Weitere Zinssenkungen der EZB würden die Inflation wieder aktiv antreiben. Das wäre nicht ohne Risiko – gerade jetzt, wo niemand genau weiß, welche Preiseffekte tatsächlich aus den Handels- und Zollkonflikten entstehen. Die europäischen Währungshüter sind gut beraten, wenn sie bei den Leitzinsen nun eine längere Zinspause einlegen. Es wäre ein Zeichen von Augenmaß und Stabilität."
MICHAEL HEISE, CHEFÖKONOM HQ TRUST:
"Ein weitere Zinssenkung im Juli wird heftig umstritten sein. Die meisten Beobachter erwarten eine Zinspause. Auszuschließen ist eine Zinssenkung aber nicht. Bei stabilen Energiepreisen und allmählich rückläufigen Lohnsteigerungen im Euroraum dürfte die Gesamtinflation in den kommenden Monaten etwas unter zwei Prozent bleiben. Kommen schwache Konjunkturdaten hinzu, was in Anbetracht der Unsicherheit durch den Handelsstreit sehr gut möglich ist, könnte die EZB darauf reagieren. Aussagen zur Julisitzung stehen aber unter Vorbehalt der kaum absehbaren Handelspolitik. Sollte es im Handelsstreit zu keiner Einigung mit den USA kommen und sollten geplante Gegenzölle der EU eingesetzt werden, die zur Teuerung in der EWU beitragen, wird wohl definitiv keine Zinssenkung stattfinden."
SILKE TOBER, GEWERKSCHAFTSNAHES IMK-INSTITUT:
"Die heutige Senkung des Leitzinses auf 2,0 Prozent war richtig und wichtig. Die Geldpolitik der EZB hat bis vor Kurzem restriktiv gewirkt, obwohl sich die Inflationsdynamik abschwächte und die Wirtschaft lahmt. Die Normalisierung der Inflation schreitet weiter voran und es besteht mittlerweile die Gefahr einer zu geringen Inflation in der mittleren Frist, wenn sich die Wirtschaft nicht erholt. Der Euroraum und Deutschland benötigen eine Stärkung der Binnennachfrage und insbesondere der Investitionstätigkeit, um die Herausforderungen der kommenden Jahre zu bewältigen. Angesichts des beruhigten Preisklimas ist es an der Zeit, dass Geld- und Fiskalpolitik gemeinsam ein günstiges Umfeld für private Investitionen schaffen. Da die zusätzlichen staatlichen Investitionen in dem größten Euroland, Deutschland, in der zweiten Jahreshälfte 2025 erst langsam anlaufen, wäre zeitnah ein weiterer Zinsschritt sinnvoll."
LENA DRÄGER, KIEL INSTITUT FÜR WELTWIRTSCHAFT:
"Die siebte Zinssenkung in Folge stellt eine Fortsetzung des geldpolitischen Kurses der EZB von einer restriktiven zu einer neutralen Geldpolitik dar. Angesichts der weiter verhaltenen Wachstumsdynamik in der Eurozone und einer Inflationsrate, die zuletzt wieder moderat gefallen ist, ist ein solcher Schritt gut begründbar. Bei anhaltend hoher wirtschaftlicher Unsicherheit erhält sich die EZB bei einem Zinsniveau von zwei Prozent zudem die Option, den Zins in beide Richtungen anpassen zu können.
Große Unsicherheit besteht derzeit in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone. Einerseits hat sich die europäische Wirtschaft im ersten Quartal 2025 robuster gezeigt als erwartet, und insbesondere die angekündigten deutschen Investitionen in Infrastruktur und Verteidigung wecken Hoffnungen auf zukünftige Nachfragesteigerungen und damit eine wirtschaftliche Erholung. Andererseits stagniert die Wirtschaft aktuell weiter, und gerade die exportorientierten Sektoren leiden unter dem anhaltenden Zollchaos in den USA. Die kommenden Monate werden deutlicher zeigen, ob sich die Wirtschaft in der Eurozone in eine eher positive oder eher negative Richtung entwickelt. Mit der aktuellen Zinsentscheidung behält die EZB die Instrumente, mit einer Zinsanpassung entsprechend reagieren zu können."
JÖRG ASMUSSEN, HAUPTGESCHÄFTSFÜHRER DES GESAMTVERBANDS DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT (GDV):
"Die heutige Entscheidung der Europäischen Zentralbank, die Leitzinsen um weitere 25 Basispunkte zu senken, ist angesichts der schwachen wirtschaftlichen Erwartungen angemessen. In einem von hoher Unsicherheit geprägten Umfeld sendet die EZB mit diesem Schritt ein wichtiges Stabilitätssignal an die Märkte. Die jüngsten Inflationsdaten zeigen eine Stabilisierung der Preisdynamik nahe am Zielwert der EZB. Mit einem Zinssatz von 2,0 Prozent ist die EZB am unteren Ende des neutralen Zinsniveaus angekommen. Zusätzlich könnte der Zollkonflikt deflationär in Europa wirken, gleichzeitig den Euro aber wieder schwächen. Basierend auf der aktuellen Datenlage erwarte ich keine weiteren Zinssenkungen bis zum Herbst. Die kommenden Monate bleiben aber von hoher geopolitischer Unsicherheit geprägt und werden weiter eine flexible und datenabhängige Geldpolitik erfordern."