- von James Oliphant und Bo Erickson und John Shiffman
Washington, 11. Sep (Reuters) - Das Attentat auf den rechtskonservativen Aktivisten Charlie Kirk zeigt die tiefe gesellschaftliche und politische Spaltung in den USA: Als die Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus am Mittwoch von dem Attentat erfuhren, hob die Republikanerin Lauren Boebert aus Colorado die Hand und bat um ein Gebet. Doch einige demokratische Abgeordnete stellten sogleich die Frage, warum Mordanschlägen auf weniger prominente Persönlichkeiten nicht die gleiche Aufmerksamkeit zukomme. Darauf brach ein Tumult aus, es gab Geschrei und Schuldzuweisungen. Dieser Vorfall zeichnete ein Bild einer Nation, die durch politische Verbitterung zerrissen ist.
Der Tod von Kirk, dem 31-jährigen Mitbegründer der konservativen Interessengruppe Turning Point USA und überzeugten Anhänger von Präsident Donald Trump, löste bei vielen seiner konservativen Parteikollegen Wut aus. Sie gaben den Liberalen die Schuld an dem Anschlag, während die Demokraten größtenteils einen zurückhaltenderen Ton anschlugen, politische Gewalt allgemein verurteilten und erneut strengere Waffengesetze forderten. Steve Scalise, der zweithöchste Republikaner im Repräsentantenhaus, der 2017 ein Schusswaffenattentat bei einem Baseballtraining des Kongresses überlebte, mahnte: "Wir sehen seit Längerem, wie sich dieses Problem verschärft, und wir müssen etwas dagegen tun. Das muss aufhören."
WAFFENGEWALT IST VIEL VERBREITETER ALS IN EUROPA
Ein Thema ist dabei Waffenkontrolle: Den neuesten Daten der Centers for Disease Control and Prevention zufolge starben im Jahr 2023 in den USA 46.728 Menschen durch Waffengewalt – die dritthöchste jemals verzeichnete Zahl. Die Zahlen stehen in deutlichem Kontrast zu der Kritik führender Politiker der Trump-Regierung an angeblich überbordender Gewalt in europäischen Ländern.
Immer wieder werden US-Politikerinnen und -Politiker Opfer von Attentaten, auch US-Präsidenten und Abgeordnete. Erst im Juni waren im US-Bundesstaat Minnesota die demokratische Abgeordnete Melissa Hortman und ihr Ehemann Mark erschossen worden. "Dieses Ereignis ist entsetzlich und alarmierend, aber nicht unbedingt überraschend", sagte Mike Jensen, ein Forscher an der University of Maryland, nun zu der Ermordung von Kirk. Er erfasst derartige Gewalttaten seit 1970 in einer Terrorismusdatenbank. In den ersten sechs Monaten 2025 gab es in den USA danach rund 150 politisch motivierte Anschläge – fast doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres, so Jensen. "Ich denke, wir befinden uns gerade in einer sehr, sehr gefährlichen Lage, die leicht zu größeren zivilen Unruhen eskalieren könnte, wenn wir sie nicht in den Griff bekommen", warnt er.
Vor zwei Jahren verabschiedete der Kongress die erste umfassende Maßnahme zur Waffenkontrolle seit 30 Jahren. Es handelte sich um einen parteiübergreifenden Gesetzentwurf, der Schlupflöcher verschärfte und die Anzahl der Hintergrundüberprüfungen erhöhte, jedoch wenig zur Eindämmung der Schießereien beitrug.
FÜR DIE RECHTE IST SCHULD SCHON KLAR
Die Verbreitung von Waffen in den USA ist ohnehin nur ein Teil des Problems. Die unterschiedlichen Reaktionen auf Kirks Tod zeigen, dass sich die klaffende politische Spaltung Amerikas wahrscheinlich noch vertiefen wird. Schon bevor die Identität des Schützen bekannt wurde, stellten prominente Persönlichkeiten des rechten Flügels den Vorfall als Teil eines umfassenderen Angriffs der Linken auf den Konservatismus dar. "Amerika hat einen seiner größten Helden verloren", schrieb Stephen Miller, stellvertretender Stabschef des Weißen Hauses, auf X. "Wir alle müssen uns nun der Aufgabe widmen, das Böse zu besiegen, das Charlie aus dieser Welt geraubt hat."
Laura Loomer, eine einflussreiche Maga-Anhängerin, forderte ein "hartes Durchgreifen der Regierung gegen die Linke. Jede einzelne linke Gruppe, die gewalttätige Proteste finanziert, muss geschlossen und strafrechtlich verfolgt werden. Keine Gnade." Elon Musk, umstrittener Milliardär und Eigentümer der Plattform X, war sogar noch unverblümter: "Die Linke ist die Partei des Mordes", schrieb er.
Und US-Präsident Donald Trump, der seine politischen Rivalen regelmäßig als "radikale linke Spinner" und sie als existenzielle Bedrohung für Amerika bezeichnet, führte den Fall auf eine überhitzte Rhetorik zurück. "Gewalt und Mord sind die tragische Folge davon, diejenigen zu dämonisieren, mit denen man nicht übereinstimmt", sagte er in einem Video, das er auf seiner Plattform Truth Social veröffentlichte.
Der Gouverneur von Illinois, JB Pritzker, hielt sofort dagegen. "Ich glaube, es gibt Leute in diesem Land, die die Stimmung anfachen. Ich glaube, die Rhetorik des Präsidenten trägt oft dazu bei", kritisierte der US-Demokrat, der auch einen von Trump geplanten Einsatz der Nationalgarde in Chicago strikt ablehnt.
Die ehemalige demokratische US-Abgeordnete Gabby Giffords, die selbst 2012 von einem Schützen schwer verletzt wurde, mahnte: "In demokratischen Gesellschaften wird es immer politische Meinungsverschiedenheiten geben, aber wir dürfen niemals zulassen, dass Amerika zu einem Land wird, das diesen Meinungsverschiedenheiten mit Gewalt begegnet." Sie gibt damit wieder, was einer Reuters/Ipsos Umfrage vom Oktober vergangenen Jahres zufolge die große Mehrheit der US-Amerikaner teilt. Nur sechs Prozent der Befragten sagten danach, dass es akzeptabel sei, wenn politisch Andersdenkende eingeschüchtert werden dürfen, um ein politisches Ziel zu erreichen.