- von Andreas Rinke -
Berlin, 17. Jul (Reuters) - In der vergangenen Woche Emmanuel Macron, am Donnerstag Friedrich Merz: Der britische Premierminister Keir Starmer kann sich derzeit über mangelnde Aufmerksamkeit der großen EU-Partner nicht beschweren. Mit beiden Ländern schloss Großbritannien wichtige bilaterale Abkommen - mit Deutschland erstmals sogar einen Freundschaftsvertrag. Der Grund für die Annäherung mit dem aus der EU ausgetretenen Land sind vor allem die beiden Atommächte Russland und USA. Moskau sehen alle drei europäischen Staats- und Regierungschefs als zunehmende Bedrohung - Washington dagegen nicht mehr als verlässlichen Partner. Die Folge ist eine neue Dynamik der Zusammenarbeit der Europäer untereinander.
ZWEIFEL AN VERLÄSSLICHKEIT DER NATO UNTER TRUMP
Der russische Angriff auf das Nachbarland Ukraine hat in Europa schon nach Einschätzung des früheren Kanzlers Olaf Scholz eine "Zeitenwende" ausgelöst, die der europäischen Atommacht Großbritannien plötzlich wieder große Aufmerksamkeit beschert - und viele Briten rätseln lässt, ob die Brexit-Entscheidung des Königreichs richtig war. Das erklärt, warum sich Scholz, aber noch mehr Merz um eine engere Anbindung Großbritanniens an die EU kümmern. Man müsse die EU und das Königreich künftig immer zusammen denken, hatte der Kanzler mehrfach betont.
"Der Vertrag ist (...) ein Zeichen, dass Großbritannien wegen der transatlantischen Unsicherheit noch wichtiger als Sicherheitspartner geworden ist", sagt Nicolai von Ondarza, Europa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, über den Freundschaftsvertrag. Denn trotz eines erfolgreich absolvierten Nato-Gipfels ist in europäischen Hauptstädten das Vertrauen stark gesunken, dass man sich auf den Schutz im transatlantischen Verteidigungsbündnis in der Regierungszeit von US-Präsident Donald Trump noch verlassen kann. Also werden plötzlich bilaterale Beistandsabkommen geschlossen, wie dies Deutschland und Großbritannien am Donnerstag taten - für den Fall der Fälle. Auch Polen hat nach Angaben von Ondarzas solche Abkommen mit den Niederlanden und Frankreich geschlossen.
AUF WEN KANN SICH DEUTSCHLAND VERLASSEN?
Dazu kommt, dass es innerhalb der EU erhebliche Probleme gibt. Direkt nach Amtsantritt hatte Merz die Reaktivierung des Weimarer Dreiecks mit Frankreich und Polen verkündet - und war an einem Tag zu Antrittsbesuchen in beide Hauptstädte geflogen. Aber spätestens seit der von einem nationalkonservativen Kandidaten gewonnenen polnischen Präsidentschaftswahl hört man davon nur noch wenig. "Seit der verlorenen Präsidentschaftswahl steht Ministerpräsident Donald Tusk enorm unter Druck. Es zählt nur noch die Innenpolitik", sagt von Ondarza. Andere Experten sprechen in Anspielung auf die nationalkonservative Opposition davon, dass Tusk "die Sprache der PiS" sprechen müsse - mit einem deutlichen deutschland- und europakritischen Unterton.
Im Nachhinein ist es bezeichnend, dass Merz in der ersten Woche seiner Amtszeit zusammen mit Starmer und Macron im Zug in die ukrainische Hauptstadt Kiew fuhr - Tusk aber mit einem anderen Zug hinterherkam.
Die Beziehungen des Kanzlers zur rechtsgerichteten italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gelten zwar als gut. Aber das hochverschuldete Italien hinkt etwa bei seinen Verteidigungsausgaben so weit hinterher, dass es kein wirklich aktiver Partner sein kann. Der außenpolitische Aktionsradius ist sehr beschränkt.
NEUBELEBUNG DER E3
Das führt dazu, dass - über die Grenzen der EU hinweg - das sogenannte E3-Format plötzlich ins Zentrum der Kontakte rückt. Deutschland, Frankreich und Großbritannien sprechen sich in der Ukraine-, Nahost- und Iranpolitik sehr eng ab. Dass es ein E3-Plus-Format mit Polen und Italien in der Ukraine-Unterstützung gibt, spricht nicht dagegen, sondern zeigt nur, dass von den großen europäischen Staaten heute ein anderes Abstimmungszentrum gesehen wird als in den vergangenen Jahren.
Aus deutscher Sicht kommt ein anderer Aspekt hinzu: Für Bundesregierungen war Großbritannien bis zum Brexit stets ein willkommener Ausgleichspartner zu Frankreich gewesen. Das ist heute wieder so: Denn obwohl Deutschland und Frankreich seit Jahren weitreichende Rüstungsprojekte wie die Entwicklung eines gemeinsamen Kampfflugzeugs FCAS und eines neuen Panzers verabredet haben, kommen diese nicht voran. In Berlin herrschte zuletzt Entsetzen, dass die französische Industrie plötzlich einen Arbeitsanteil von 80 Prozent bei FCAS verlangte - was das Aus für das gemeinsame Projekt bedeuten würde. "Für das Verteidigungsministerium ist es einfacher, Rüstungskooperationen mit den Briten als mit den Franzosen zu besprechen, schon weil die Industriestrukturen so verschieden sind", meint von Ondarza.
Das verhindert aber nicht, dass das neue Dreieck in alle Richtungen funktioniert: In der kommenden Woche kommt Macron nach Berlin, um die deutsch-französische Agenda für den Herbst abzusprechen.