
- von Philip Blenkinsop und Maria Martinez
Brüssel/Peking, 20. Nov (Reuters) - Die Europäische Union will ihre Handelspolitik mit China verschärfen. Angetrieben wird die Entwicklung von einem Umdenken in Deutschland, der größten Volkswirtschaft der EU, die lange als Bremser härterer Maßnahmen galt - schließlich hat die deutsche Industrie über viele Jahre prächtig in China verdient. In einer neuen "Doktrin zur wirtschaftlichen Sicherheit", die am 3. Dezember vorgestellt werden soll, will die EU-Kommission ihre Möglichkeiten überprüfen. Sie will entscheiden, ob weitere Schritte nötig sind, um auf geopolitische Herausforderungen zu reagieren.
Im Mittelpunkt dürfte dabei China stehen. Denn in Brüssel wachsen die Sorgen vor der Abhängigkeit Europas von der Volksrepublik bei kritischen Mineralien. Zudem sehen sich europäische Unternehmen einem unfairen Wettbewerb durch stark subventionierte chinesische Importe ausgesetzt, nicht nur bei Stahl. Die Geschlossenheit der 27 EU-Staaten wird Experten zufolge entscheidend sein, um Änderungen am Ende auch durchzusetzen.
Das Handelsdefizit der EU mit China ist seit 2019 um fast 60 Prozent gestiegen. Deutschlands eigene Handelsbilanz mit China kippte 2023 von einem Überschuss in ein Defizit, das sich seitdem ausweitet. China ist nicht mehr der verlässliche Absatzmarkt für deutsche Exporte, der es einmal war. Das bereitet vor allem der Autoindustrie immer größere Probleme.
CHINESISCHE INVESTITIONEN STÄRKER IM VISIER
Konkrete Anzeichen für den neuen Kurs in Berlin gibt es bereits. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) kündigte zuletzt an, Deutschland werde keine Komponenten von chinesischen Unternehmen in seinem künftigen 6G-Mobilfunknetz zulassen. Zudem brach er mit jahrzehntelanger deutscher Freihandelsdoktrin und forderte protektionistische Maßnahmen für die europäische Stahlindustrie. Der Bundestag hat darüber hinaus gerade eine Expertenkommission eingesetzt. Sie soll mit Sachverständigen aus Wissenschaft und Wirtschaft die "sicherheitsrelevanten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und China" untersuchen und Handlungsempfehlungen vorlegen. Als Ziel sind Anpassungen etwa im Außenwirtschaftsrecht vorgesehen. Konkret soll das Gremium Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten benennen. Außerdem sollen chinesische Investitionen und Investitionsmöglichkeiten in die kritische Infrastruktur in Deutschland überprüft werden.
Dies zeigt sich auch in der Dilpomatie. Bei einem Besuch in China in dieser Woche äußerte Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) Bedenken hinsichtlich chinesischer Exportbeschränkungen für Seltene Erden und industrieller Überkapazitäten. "Wir haben aus Abhängigkeiten gelernt, wie sie bei der russischen Energieversorgung entstanden sind, und wir machen uns in Deutschland und Europa stärker", sagte Klingbeil in China. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters fügte er mit Blick auf die krisengeplagte Stahlbranche hinzu: "Ich bin für freie, für offene Märkte. Aber ich möchte nicht, dass wir am Ende die Dummen sind in Europa und in Deutschland."
Die chinesische Führung reagierte auf die Bedenken zurückhaltend. Bei einem gemeinsamen Pressetermin mit Klingbeil in Peking sagte Vize-Ministerpräsident He Lifeng, China sei entschlossen, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, um die Kooperation auszubauen. Man wolle "ein faires, gerechtes und nicht diskriminierendes Geschäftsumfeld fördern".
WIE GESCHLOSSEN IST DIE EU WIRKLICH?
Die EU-Doktrin im Dezember dürfte Instrumente wie Exportkontrollen, die Überprüfung von Investitionen und Beschränkungen für ausländische Subventionen für in der EU tätige Unternehmen in den Vordergrund stellen. Als schärfste Waffe gilt das Anti-Coercion-Instrument, das Importe, Exporte und Investitionen beschränken oder den Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen verhindern kann. Als eine erste Maßnahme zur Kurskorrektur einigten sich die EU-Staaten vergangene Woche darauf, chinesischen Online-Händlern wie Shein, Temu und AliExpress das Geschäft zu erschweren. Sie fluten Europa mit Billig-Produkten. Hier soll die Zollfreiheit 2026 gestrichen werden. Bisher gilt eine Freigrenze von 150 Euro.
Allerdings ist die vielbeschworene Geschlossenheit in Europa oft nicht gegeben. Beispielsweise wirbt die spanische Regierung derzeit stark um chinesische Investitionen in erneuerbare Energien, Batterien für Elektroautos und Künstliche Intelligenz. Der Besuch von König Felipe VI. in China vergangene Woche, der erste eines spanischen Monarchen seit 18 Jahren, unterstrich Pekings Erfolg bei der Pflege der Beziehung. Spanische Schweinefleischproduzenten profitierten zudem von deutlich niedrigeren Zöllen als ihre EU-Konkurrenten in einer chinesischen Antidumping-Untersuchung.
Die Notwendigkeit einer einheitlichen Linie wurde auch im Fall des Chip-Herstellers Nexperia deutlich. Die Niederlande übernahmen im September die Kontrolle über das Unternehmen, was zu Halbleiter-Engpässen bei Auto-Herstellern führte und Peking dazu veranlasste, Druck auf die Niederlande auszuüben. EU-Vertreter zeigten sich überrascht, nicht vorab über den niederländischen Schritt informiert worden zu sein.