- von Pete Mckenzie und Hollie Adams
Ebeye/Marshallinseln, 25. Sep (Reuters) - Jeden Freitag macht Korab Lanwe auf der winzigen Pazifikinsel Ebeye seine Runde. Die Menschen, die er besucht, haben Diabetes. Sie leiden unter den schweren Folgen der chronischen Krankheit: stark geschwollene Beine, nicht heilende Wunden, Amputationen. Ihre Behausungen aus Sperrholz und Wellblech können sie nicht mehr verlassen. Lanwe fragt, ob sie ihre Medikamente nehmen und misst den Blutdruck. Er ist Diabetes-Koordinator auf Ebeye. Doch der 42-Jährige kann wenig ausrichten. In dem rudimentären Krankenhaus auf der Insel gibt es weder Dialysegeräte, wenn die Nieren versagen, noch ein Prothesenlabor, wenn Gliedmaßen absterben. "Es macht mir Angst", sagt Lanwe. "Wir könnten unsere Leute verlieren."
Das Erschreckende: Von den rund 10.000 Einwohnern von Ebeye leiden mindestens ein Drittel unter Diabetes. Den Hauptgrund dafür sehen Wissenschaftler in dem fast ausschließlichen Verzehr von stark verarbeiteten Lebensmitteln aus den USA. Das ergab eine Studie von Gesundheitsbeamten der Marshallinseln und US-Experten aus dem Jahr 2021. Die Ernährung der Inselbewohner besteht hauptsächlich aus billigem Reis, gefrorenem Hühnchen und Dosenfleisch. Frische Produkte sind für die meisten unerschwinglich: ein Kohlkopf kostete im Juni viermal so viel wie in einem US-Supermarkt.
Alles begann nach 67 US-Atomtests zwischen 1946 und 1958. Aus Angst vor verstrahlter Nahrung stiegen die Bewohner von Ebeye auf importierte Lebensmittel um, die von den USA verteilt wurden. Diese Abhängigkeit wird heute durch die wirtschaftliche Not und den Mangel an Ackerland auf der überbevölkerten Insel zementiert. Die Not ist so groß, dass bei einer Volkszählung 2021 fast die Hälfte der Haushalte angab, aus Geldmangel Mahlzeiten auszulassen. "Ich habe das Gefühl, wir werden langsam umgebracht", sagte der Beamte Abon Arelong mit Blick auf die importierte Nahrung.
WIE TAG UND NACHT
Ebeye liegt nur eine 20-minütige Bootsfahrt von einem US-Militärstützpunkt entfernt, der im Kräftemessen mit China eine entscheidende Rolle spielt. Jeden Morgen pendeln Arbeitsfähige mit einer Fähre der US-Armee zur zehnmal so großen Nachbarinsel Kwajalein. Dort arbeiten sie als Hilfskräfte, während die Amerikaner Raketen testen und chinesische Satellitenstarts überwachen. Die 1.300 US-Soldaten und zivilen Mitarbeiter auf Kwajalein genießen klimatisierte Häuser, Swimmingpools, einen Country-Klub und einen Neun-Loch-Golfplatz. Die Amerikaner nennen ihre Insel "Almost Heaven" – fast der Himmel. "Die Lebensbedingungen zwischen Ebeye und Kwajalein sind wie Tag und Nacht", sagte Kalani Kaneko, Außenminister der Marshallinseln und US-Militärveteran, zu Reuters. "Ich schäme mich sehr."
Dem Internationalen Diabetes-Verband zufolge haben die Marshallinseln eine der höchsten Diabetes-Raten weltweit, wobei die Lage auf Ebeye besonders schlimm ist. Eine Reuters-Analyse von Krankenhausakten ergab ein durchschnittliches Sterbealter von 52 Jahren – in den USA liegt die Lebenserwartung bei 78. Hinzu kommt die Belastung durch Umweltgifte. Studien des US-Militärs warnen seit 2008 vor giftigen Schadstoffen, die vom Stützpunkt Kwajalein ins Meer gelangen. Ein Bericht von 2017 fand in Fischen rund um Ebeye so hohe Arsen- und PCB-Werte, dass ihr Verzehr "inakzeptable" Risiken für Krebs sowie Nerven- und Fortpflanzungsschäden birgt.
Calvin Juda, ein Umweltgesundheitsbeauftragter, fischt dennoch, um seine zehnköpfige Familie zu ernähren. Die Alternative sei Dosenfleisch, das Diabetes begünstige, sagte er. David Paul, Senator für Ebeye und Finanzminister der Marshallinseln, fasst es so zusammen: "Man sucht sich sein Gift aus."
IM FADENKREUZ DER SUPERMÄCHTE
Die Notlage hat auch eine geopolitische Dimension. Der Stützpunkt auf Kwajalein ist für die USA von zentraler Bedeutung. Mit seinem "weltweit modernsten" Radarsystem dient er der Raketenabwehr und als Frühwarnsystem. Die Marshallinseln gehören zu den Staaten, mit denen die USA Verträge abgeschlossen haben, die Washington die militärische Kontrolle über weite Teile des Nordpazifiks sichern und China ausschließen. Doch Peking versucht, gegenzuhalten. Außenminister Kaneko berichtete von einem Angebot Chinas über 100 Millionen Dollar und weitere Hilfen, sollte sein Land die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan abbrechen und sich Peking zuwenden. "Sie können unser Krankenhaus reparieren, unsere Häfen instand setzen, sie können helfen, Arbeitsplätze zu schaffen."
Bislang hat die Regierung der Marshallinseln, die historisch enge Bande zu den USA pflegt, das Angebot abgelehnt. Im vergangenen Jahr stimmte der US-Kongress einem neuen Hilfspaket von 2,3 Milliarden Dollar für die Marshallinseln über 20 Jahre zu, davon 132 Millionen Dollar für Ebeye. Die US-Botschafterin Laura Stone erklärte, die USA seien ein "wirklich guter Partner". Die Verantwortung für die Verwendung der Mittel liege jedoch bei den Behörden der Marshallinseln. Das chinesische Außenministerium betonte, man konkurriere nicht um Einfluss, Hilfe sei an keine Bedingungen geknüpft.
Für den Diabetes-Koordinator Lanwe ändern diese Zusicherungen wenig an der täglichen Not. Seine Wut auf die Verantwortlichen äußert er nur "in meiner Vorstellung". Die Hoffnung, die eigene Familie zu schützen, hat sich zerschlagen: Auch seine Tante, zwei Onkel und schließlich sein eigener Vater sind erkrankt. "In diesem Moment dachte ich: Ich habe bei ihm versagt", sagte Lanwe, nachdem er die Diagnose bei seinem Vater selbst stellen musste. Jeden Morgen prüft er, ob sein Vater seine Medikamente genommen hat, bevor er sich um die wachsende Liste der anderen Kranken kümmert.