- von Andreas Rinke
Berlin, 25. Jul (Reuters) - Als Kanzler Friedrich Merz Anfang der Woche gefragt wurde, wie er Israels Politik im Gazastreifen beurteilt, sagte er: "So, wie die israelische Armee dort vorgeht, ist das nicht akzeptabel." Er habe dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gerade erst "sehr klar und sehr deutlich" gesagt, dass man mit dessen Gazapolitik nicht einverstanden sei. Die immer wieder wiederholte Äußerung verhindert aber nicht, dass die Bundesregierung beim Thema Israel plötzlich doppelt unter Druck gerät. Nun kündigte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an, im September einen palästinensischen Staat anerkennen zu wollen.
Die Gemüter in Berlin kochten aber schon seit Montag hoch, weil die Bundesregierung einen Appell engster Verbündeter - Frankreich, Großbritannien, Dänemark und vieler anderer Staaten - nicht unterzeichnete. Darin wurde Israel aufgefordert, den Gazakrieg sofort zu beenden. Das löste einen Streit in der Koalition aus: Entwicklungsministerin Reem Alabali-Radovan (SPD) und andere Sozialdemokraten forderten Außenminister Johann Wadephul (CDU) offen auf, sich der Erklärung seiner Amtskollegen anzuschließen. Das geschah nicht. Dem Vorstoß Macrons folgt Deutschland ebenfalls nicht: Regierungssprecher Stefan Kornelius erklärte, dass man "kurzfristig" einen palästinensischen Staat nicht anerkennen werde - dies könne nur am Ende einer Zweistaaten-Lösung stehen.
Der Druck wächst, dass die Bundesregierung ihren Kurs einer weitreichenden Unterstützung Israels grundlegend verändert und sich der deutlichen Kritik anschließt. Doch ein ganzes Set an Gründen verhindert dies.
STAATSRÄSON UND HOLOCAUST - MERZ BEWEGT SICH
Seit die frühere Kanzlerin Angela Merkel mehrfach betonte, die Sicherheit des jüdischen Staates sei Teil deutscher Staatsräson, scheint diese Position zementiert. Es gilt parteiübergreifend zumindest für die Parteien der politischen Mitte als gesetzt, dass es eine andauernde deutsche Verantwortung für Israel gibt, die sich aus der Ermordung der europäischen Juden in der NS-Zeit ergibt. Damit will kein Kanzler brechen, dies war auch bei Olaf Scholz so. Deutsche Diplomatie pocht darauf gegenüber engsten Partnern und arabischen Staaten, die nach Aussagen vieler Diplomaten für diese besondere deutsche Position auch Verständnis zeigen.
Allerdings gibt es wegen der sich zuspitzenden humanitären Katastrophe und der steigenden Zahl an Toten unter der Zivilbevölkerung im Gazastreifen Bewegung auch beim Kanzler: "Ich habe mir die Formulierung 'bedingungslose Unterstützung' nie zu eigen gemacht", betonte Merz vor wenigen Tagen erstmals. Nach dem Besuch Macrons ließ er fordern, dass Israel einen Waffenstillstand in Gaza "sofort einleiten" müsse.
Außenminister Wadephul hatte zuvor betont, dass die Bundesregierung bei Waffenlieferungen an Israel zwischen der nötigen Selbstverteidigung des jüdischen Staates gegen äußere Feinde wie Iran und dem Einsatz deutscher Waffen im Gazakrieg durch die israelische Regierung unterscheiden müsse. Kritik musste Wadephul aber intern einstecken, als er davon sprach, dass es keine "Zwangssolidarität" mit Israel gebe.
RUSSLANDS ÜBERFALL AUF UKRAINE UND ISRAEL IM GAZASTREIFEN
Die deutsche Position gerät durch zwei Ereignisse unter Druck: den russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 und den israelischen Einmarsch im Gazastreifen nach dem Hamas-Überfall auf Israel im Oktober 2023. Seither muss sich die Bundesregierung gegen den Vorwurf etwa von Regierungen der Südhalbkugel verteidigen, einen doppelten Standard bei Israel anzulegen. Denn die Zahl der zivilen Opfer durch das israelische Vorgehen im Gazastreifen übersteigt die der russischen Angriffe auf die Ukraine bei weitem. Zudem verurteilt die Bundesregierung selbst die fortgesetzte Landnahme im besetzten palästinensischen Westjordanland durch radikale jüdische Siedler als völkerrechtswidrig. Dennoch verhindert Deutschland in der EU bisher Sanktionen gegen Israels Regierung, die dieses Vorgehen der Siedler hinnimmt.
Die Regierung weist den Vergleich zwischen Russland und Israel vehement zurück: Das demokratische Israel sei im Oktober 2023 von der Hamas überfallen worden und stecke in einer Verteidigungsposition, argumentierte etwa der Regierungssprecher. Russland dagegen habe das Nachbarland Ukraine überfallen, von der keinerlei Gefahr ausgegangen sei.
WAS BRINGT DER DIREKTE KONTAKT ZUR ISRAELISCHEN REGIERUNG?
Kanzler und Außenminister berufen sich darauf, dass Deutschland neben den USA zu den wenigen verlässlichen Verbündeten gehört, die überhaupt noch mit der israelischen Regierung reden könnten. Dialog sei besser als offene Konfrontation, um Einfluss nehmen zu können. Das Problem: Die Versorgungslage der palästinensischen Zivilbevölkerung hat sich trotz zahlloser Appelle und Mahnungen und israelischer Versprechen immer weiter verschlechtert.
GILT STAATSRÄSON FÜR NETANJAHU? WAS PASSIERT BEI ANNEKTION?
Die Position der Solidarität ist für die Bundesregierung noch schwieriger geworden, seit in Israel eine rechtsnationale Regierung mit rechtsradikalen Ministern regiert - die teilweise konträrere Ziele zur Bundesregierung und der EU verfolgt. So haben israelische Kabinettsmitglieder vorgeschlagen, die rund zwei Millionen Palästinenser aus dem Gazastreifen umzusiedeln. "Eine zwangsweise Umsiedlung ist inakzeptabel und völkerrechtswidrig", sagte der deutsche Regierungssprecher.
Als Argument gegen Sanktionen wird in Berlin aber stets vorgebracht, dass dies nicht die Position der israelischen Regierung, sondern nur einzelner Minister sei. Das erste Problem dabei: Auch Regierungschef Netanjahu lehnt die von der Bundesregierung geforderte Zweistaaten-Lösung ausdrücklich ab und lässt seine Minister gewähren.
Das zweite Problem: Es gibt unter EU-Diplomaten die ernste Sorge, dass Netanjahu die Annexion weiterer Gebiete im besetzten palästinensischen Westjordanland plant. Das israelische Parlament hat dies gerade gefordert, obwohl dies völkerrechtswidrig wäre und das Ende jeder Zweistaaten-Hoffnung bedeuten würde - auch Netanjahu stimmte für diese Resolution.
Gilt also die Staatsräson auch für die derzeitige israelische Regierung? Im Fall des mit einem internationalen Haftbefehl belegten Netanjahu betont Merz einerseits, ein israelischer Ministerpräsident werde in Deutschland nicht verhaftet. Andererseits hofft man in Berlin darauf, dass der Israeli diese Aussage nicht testet und tatsächlich nach Deutschland reist.
"DRECKSARBEIT" UND MILITÄRINTERESSEN
Zu den meist weniger klar ausgesprochenen Motiven für Zurückhaltung gegenüber Israel gehören die militärische Komponente und die harte "Realpolitik". Zum einen wird in Sicherheitskreisen darauf verwiesen, dass Deutschland Kunde etwa von israelischen Luftverteidigungssystemen sei, die ebenso wie der Geheimdienst und die Cyberabwehrfähigkeiten als besonders leistungsfähig gelten. Israel unterstützt übrigens auch die Ukraine militärisch, was sehr im deutschen Interesse ist.
Zum anderen wird die jüdische Demokratie in der Bundesregierung sehr wohl als Vorposten im Nahen Osten gesehen, der auch im Interesse der Europäer Konflikte eingeht. Ungewohnt offen räumte dies Kanzler Merz am Rand des G7-Gipfels ein, als er davon sprach, dass Israel mit der Bombardierung der iranischen Atomanlagen letztlich die "Drecksarbeit" für die Europäer gemacht habe.