- von Andreas Rinke
Berlin, 18. Jun (Reuters) - Es ist nicht lange her, da hatte Bundeskanzler Friedrich Merz noch Zweifel an der Rechtmäßigkeit des israelischen Vorgehens im Gazastreifen geäußert. Auch die Kritik am israelischen Verstoß gegen das Völkerrecht durch die fortgesetzte Landnahme jüdischer Siedler im besetzten palästinensischen Westjordanland gab es erst vor wenigen Tagen. Aber seit Israel den Iran bombardiert, scheinen alle Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der israelischen Politik in den Hintergrund zu treten. Am Dienstag sagte Merz am Rande des G7-Gipfels im ZDF ungewöhnlich hart, dass Israel im Iran die "Drecksarbeit" für alle erledige. Er lobte die israelische Armee und die Regierung ausdrücklich dafür, Atomanlagen im Iran zu bombardieren.
Die Kritik an seinem Ausdruck "Drecksarbeit" war danach ungewöhnlich breit - bis weit in die Reihen seines Koalitionspartners SPD. Dort wirft man dem Kanzler mittlerweile mehr oder weniger offen einen Schlingerkurs in der Israel-Politik der Regierung vor. Das hat verschiedene Gründe.
BERECHTIGTE ANGRIFF AUF IRAN ODER NICHT?
Zwar gibt es parteiübergreifend wenig Sympathie für das Mullah-Regime im Iran. Merz hält sich deshalb zugute, nur das auszudrücken, was viele denken. Denn sowohl mögliche Atomwaffen als auch ballistische Raketen in den Händen einer radikal-islamischen Staatsführung wie im Iran bedrohten nicht nur Israel, sondern auch Westeuropa, sagt er.
Allerdings gibt es Zweifel, ob die israelischen Angriffe auf Iran völkerrechtlich gerechtfertigt sind und ob es sich wirklich um einen Präventivschlag handelte. Denn zum einen behauptet Israel seit Jahrzehnten, dass Iran angeblich kurz vor der Vollendung einer Atombombe stünde, ohne dass der Fall je eintrat. Zum anderen fand der israelische Angriff ausgerechnet vor angesetzten Gesprächen zwischen dem Iran und den USA über das Atomprogramm der Islamischen Republik statt. Die US-Regierung hatte also vergangene Woche offenbar noch den Eindruck, dass man reden könne.
Normalerweise pochen wechselnde Bundesregierungen - wie auch im Ukraine-Krieg - gerne auf die Einhaltung des Völkerrechts. Es müsse die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren gelten. Merz rechtfertigt den israelischen Angriff aber nun nachträglich damit, dass die Europäer vergangene Woche bei der Internationalen Atomenergiebehörde eine Verurteilung des Irans durchgesetzt hätten, weil dieser die Auflagen beim Atomprogramm nicht einhalte und somit gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen habe.
REGIME CHANGE ODER NICHT?
Zudem ging Merz in einem ARD-Interview einen Schritt weiter und befürwortete - anders als Frankreich und Großbritannien - fast einen "Regime Change" im Iran, also einen Sturz des schiitischen Kleriker-Regimes. "Wir haben es hier mit einem Terrorregime zu tun, nach innen wie nach außen. Es wäre gut, wenn dieses Regime an sein Ende käme", sagte er. Es gebe etwa in Syrien eine gute Erfahrung nach dem Sturz des Regimes des langjährigen Machthabers Baschar al-Assad. Die schlechten Erfahrungen nach dem Verfall der Staatlichkeit in Libyen, die auch die großen Migrationswellen nach Europa mit förderte, erwähnte der Kanzler nicht. Immerhin vermied es Merz, sich voll hinter den Vorschlag des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zu stellen, der gleich auch eine Tötung des geistlichen und politischen Oberhaupts des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, vorschlug.
Am Mittwoch schlug Merz dann wieder eine andere Tonlage an. Denn auf der Online-Plattform X unterstützte er Außenminister Johann Wadephul, der mit seinen britischen und französischen Kollegen und der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas am Freitag den iranischen Außenminister treffen wird. Ausdrücklich geht es dann wieder um den Versuch, mit dem Iran eine friedliche Nutzung des Atomprogramms zu vereinbaren. Dies sei mit den USA abgestimmt, betonte der Kanzler. Nun entsteht der Eindruck einer konzertierten Aktion, bei der die USA ein militärisches Eingreifen am Wochenende androhen und der Westen dem Iran zuvor die Gelegenheit geben will, vorher noch einzulenken.
GRAUZONE GAZASTREIFEN UND WESTJORDANLAND
Ähnlich schwierig ist für den Kanzler der Umgang mit Israels Vorgehen gegen die Palästinenser. Dort ist die Definition noch schwieriger, was es eigentlich bedeutet, dass die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehört. Einerseits will vor allem die Union demonstrieren, dass sie immer an der Seite des jüdischen Staates steht. Andererseits haben auch CDU-Politiker erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens Israels im Gazastreifen. Dass die palästinensische Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft gezogen werde, "lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen", sagte Merz am 26. Mai ausdrücklich.
Längst haben nicht nur die Ultranationalisten in der israelischen Regierung eine Vertreibung der zwei Millionen Palästinenser aus dem Gazastreifen gefordert. Auch Ministerpräsident Netanjahu hat eine Umsiedlung angeregt. Netanjahu lehnt zudem ausdrücklich die von der Bundesregierung geforderte Zweistaaten-Lösung ab - ohne dass dies erkennbare Folgen für die deutsche Politik hätte.
Die deutsche Position hat mittlerweile die Spaltung in Europa in der Frage des Umgangs mit Israels vertieft. Enge Partner wie Frankreich, Großbritannien sowie Kanada haben Sanktionen gegen die Hardliner in der israelischen Regierung verhängt, Deutschland nicht. Als Außenminister Wadephul (CDU) in einem Interview zu deutschen Waffenlieferungen auch nur andeutete, man könnte zwischen dem nötigen Abwehrkampf gegen Länder wie Iran und dem Einsatz im Gazastreifen unterscheiden, reagierten einige Politiker aus der CSU sofort empört.
WAS IST WICHTIGER - SOLIDARITÄT ODER HAFTBEFEHL?
Das Dilemma für den Kanzler zeigt sich auch bei der Frage, ob Netanjahu in Deutschland überhaupt willkommen sein sollte. Denn der Internationale Strafgerichtshof, den Deutschland ansonsten immer als wichtige multilaterale Behörde unterstützt, hat einen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten wegen dessen Kriegsführung im Gazastreifen verhängt. Merz betonte dennoch, es sei unvorstellbar, dass ein israelischer Ministerpräsident in Deutschland festgesetzt werde - Haftbefehl hin oder her.