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INSIGHT-"Dem Boss blind gehorcht" – Wie mexikanische Kartelle Kinder zu Mördern machen

ReutersJun 1, 2025 7:28 AM

- von Lizbeth Diaz

- Sol erinnert sich genau an ihren ersten Mord: Eine Entführung mit anderen Jugendlichen artete in Folter aus und endete tödlich. Da war sie zwölf Jahre alt. Ein paar Monate früher hatte sie ein Bekannter für ein mexikanisches Drogenkartell rekrutiert, als sie Rosen vor einer Bar verkaufte. Erst stand sie nur Wache. Dann übernahm sie schnell weitere Aufgaben. Sie galt als willig, lernfreudig, loyal – und minderjährig. Das schützte sie vor ernsten Strafen. "Ich habe dem Boss blind gehorcht", berichtet die heute 20-jährige Sol aus einem Reha-Zentrum in Mexiko-Stadt. Und fügt mit gebrochener Stimme hinzu: "Ich dachte, sie lieben mich." Im Reha-Zentrum versucht sie nun, ein neues Leben aufzubauen.

Und das nach einer Kindheit als Kartellmitglied, drogensüchtig seit ihrem neunten Lebensjahr, wie sie erzählt, und drei Jahren, die sie in Jugendhaft verbrachte. Über die Zahl ihrer Opfer schweigt sie. Reuters verzichtet zum Schutz von Sol auf die Nennung ihres vollständigen Namens. Auch die Stadt ihrer Tätigkeit und das betreffende Kartell bleiben ungenannt.

DREI SCHICKSALE, EIN SYSTEM

Im Reha-Zentrum lebt auch Isabel, sie ist 19. Mit 14 brachte sie – mit der Hilfe ihres Onkels – den Lehrer um, der sie vergewaltigt hatte. Danach wurde der Onkel ihr Partner. Er war 20 Jahre älter. Isabel wurde schwanger und verlor ihr Kind vermutlich wegen ihrer Drogensucht. Reuters konnte nicht alle Angaben von Isabel bestätigen, aber ihre Verhaftung als namentlich nicht genanntes minderjähriges Kartellmitglied wurde damals in Nachrichtenberichten veröffentlicht.

Daniel war 16, als er 2021 einem Kartell in einem Bundesstaat an der Pazifikküste Mexikos beitrat. Die Gruppe tauchte auf einer Party auf, auf der er war, und zwang die Kinder mit vorgehaltener Waffe zum Beitritt. Die nächsten drei Jahre arbeitete Daniel für das Kartell: angefangen als Wachposten, dann als Vollstrecker, der Schutzgeld eintrieb, und schließlich als Auftragsmörder. Viele seiner Freunde starben auf dem Weg. Einige durch die Hand von Rivalen, einige durch sein eigenes Kartell – ermordet, um ein Exempel zu statuieren, weil sie sich weigerten, Befehlen zu folgen, oder weil sie versuchten, in der Hierarchie aufzusteigen.

Kindermörder wie Sol, Isabel und Daniel sind keine Einzelfälle. Reuters sprach mit zehn früheren oder noch tätigen jugendlichen Auftragskillern sowie vier älteren Kartellmitgliedern, die darüber berichteten. Ein mexikanischer Regierungsbericht über die Rekrutierung von Kindern durch Kartelle ergab, dass Minderjährige bereits im Alter von sechs Jahren dem organisierten Verbrechen beitreten. Besonders besorgniserregend sei die Rekrutierung über soziale Netzwerke und Videospiele mit Chatfunktion, sagt Dulce Leal von der Hilfsorganisation Reinserta: "Wir sehen immer mehr kriminelle Gruppen, die immer jüngere Kinder rekrutieren." So etwa über TikTok, Facebook und Spiele wie "Free Fire". In der südmexikanischen Stadt Oaxaca stoppte die Polizei 2021 drei Jungen zwischen 11 und 14 Jahren, die über das Spiel angeworben wurden. Nach US-Schätzungen sind rund 30.000 Kinder in Mexiko in kriminellen Gruppen aktiv. NGOs gehen von bis zu 200.000 potenziell gefährdeten Minderjährigen aus.

"DIESE KINDER SIND AUSTAUSCHBAR"

Ob Nachrichten überbringen, Wache halten oder töten: Kinder erledigen für Kartelle verschiedenste Aufgaben. "Mit acht Jahren können sie eine Waffe bedienen", sagt ein Kartellmitglied. Im Kartell-Jargon werden die Kinder "pollitos de colores" oder "bunte Küken" genannt. Der Name stammt von flauschigen Babyküken, die auf mexikanischen Jahrmärkten mit grellen giftigen Farben besprüht und dann verkauft werden. Sie sind billig, auffällig und leben nicht lange. "Wenn du einsteigst, ist dein Todesurteil schon unterschrieben", sagt ein 14-jähriger Auftragsmörder, der seit acht Monaten für ein Kartell arbeitet. "Aber es lohnt sich." Er sei jetzt nicht mehr hungrig und habe Familie.

Die Parallelen zu Kindersoldaten in Konfliktzonen wie Sudan oder Syrien sind offensichtlich – mit einem Unterschied: Mexikos Kartelle sind auf Profit ausgerichtet. Die Kinder sind Mittel zum Zweck – und austauschbar. "Am Ende erwartet sie der Tod", sagt Gabriela Ruiz, Spezialistin für Jugendthemen an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko.

Die Regierungen unter dem mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador und seiner Nachfolgerin Claudia Sheinbaum setzen auf soziale Prävention. Experten zufolge sind die Erfolge jedoch kaum messbar. Ein spezifisches Gesetz gegen die Rekrutierung Minderjähriger existiert nicht. Programme zur Rettung dieser Kinder fehlen ebenfalls. Weder das Präsidialamt noch das Innenministerium antworteten auf Anfragen von Reuters zu diesem Bericht.

AUF DER SUCHE NACH EINEM ZWEITEN LEBEN

Daniel floh im vergangenen November aus dem Kartell. Dabei ließ er seine Partnerin und seinen dreijährigen Sohn zurück. Er flüchtete in den Norden Mexikos. Dort beantragte er einen US-Asyltermin über die von der Biden-Regierung eingeführte App CBP One. Das Programm wurde eingestellt, als Trump sein Amt antrat. Jetzt versteckt er sich in der Nähe der Grenze. Er fürchtet um sein Leben und hat noch mehr Angst, dass sein altes Kartell hinter seiner Partnerin und seinem Kind her sein könnte. Er spart, um einen Schleuser zu bezahlen, der ihn in die USA bringt. "Ich habe keine Wahl, ich habe Angst zu sterben", sagte er Reuters in der Migrantenunterkunft, in der er sich aufhielt.

Sol will ihr Leben in Mexiko neu beginnen. Sie studiert Jura und möchte eine Karriere und ein stabiles Leben fernab von Tod und Gewalt aufbauen. Sie hofft, sich auf Jugendrecht zu spezialisieren und als Mentorin für Kinder zu arbeiten, die von einem Leben in der Kriminalität verführt werden. "Ich hätte nie gedacht, dass ich 20 Jahre alt werde", sagte sie unter Tränen. "Ich dachte immer, ich würde vorher sterben."

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