Investing.com – Aus der Industrie kommt immer wieder die Forderung eines Industriestrompreises – einer milliardenschweren Subvention, die den Industriestandort Deutschland retten soll. Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten auf den Wunsch der Industrie einzugehen. Doch ist das wirklich die Lösung für das deutsche Wirtschaftsdebakel?
Was auf den ersten Blick logisch klingen mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung schnell als der völlig falsche Weg.
Tom Bauermann, Fachmann für Konjunkturforschung bei der Hans-Böckler-Stiftung, veröffentlichte im Wirtschaftsmagazin Surplus einen Artikel, der zeigt, dass der viel gepriesene Marktmechanismus im Stromsektor vor allem eines macht: die Gewinne einiger weniger maximieren – auf Kosten der gesamten Gesellschaft.
Bauermann erläutert, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, wie Strompreise gedämpft werden können. Dafür lassen sich sogar praktische Vorbilder finden. Doch aus irgendeinem Grund, der bestimmt nichts mit der Lobbyarbeit der Energieriesen zu tun hat, verfolgt Deutschland lieber einen marktliberalen Ansatz. Eingriffe von staatlicher Seite, welche sich auf die Preisgestaltung beziehen, werden pauschal verteufelt.
„Nur der Markt sei in der Lage, Knappheiten abzubilden und nur er sorge dafür, dass die Nachfrage effizient vom Angebot gedeckt wird," heißt es. Mögliche makroökonomische Nebenwirkungen oder Verteilungsfragen müssen dabei in den Hintergrund treten. Selbst während der Gaspreiskrise sei das Credo vieler deutscher Energieökonomen gewesen, dass man nicht in den Strommarkt eingreifen solle und das Merit-Order-Prinzip an der Strompreisbörse wirken müsse.
Doch genau dieser Mechanismus bescherte uns völlig aus dem Ruder laufende Energiepreise. Denn das Merit-Order-Prinzip führt dazu, dass das teuerste Kraftwerk, das gebraucht wird, um die Stromnachfrage zu decken, den Strompreis setzt. Somit haben die Energiekonzerne selbst ein großes wirtschaftliches Interesse daran, dass nach Möglichkeit immer einer der teuersten Energieerzeuger zur Deckung der Nachfrage am Netz ist.
Ein ähnliches Gewinnmaximierungsprinzip ist auch während der sogenannten Dunkelflauten zu erkennen, von denen sicher jeder schon einmal gehört hat. Dieses Thema wird von vielen Parteien genauso missbräuchlich ausgeschlachtet wie von der Klatschpresse. Die Geschichte, die dann gesponnen wird, ist immer die Gleiche. Die Energiewende ist gescheitert, erneuerbare Energieerzeuger sind überflüssig – die Lösung sind grundlastfähige Kernkraftwerke, denn nur mit diesen müsse man keinen teuren Strom aus Frankreich importieren.
Was die Parteien und die Medien, die derartig abenteuerliche Storys verbreiten, verschweigen, ist, dass Deutschland über genügend Kapazitäten aus Notfallkraftwerken verfügt, um in solchen Situationen einzuspringen. Aber diese Kraftwerke bleiben ausgeschaltet – per Gesetz. Ein Gesetz, das dazu führt, dass die Preise am Markt genauso explodieren, wie die Gewinnmargen der Energiekonzerne.
Im Jahr 2022 waren es vor allem extrem teure Gaskraftwerke, die den Börsenstrompreis bestimmten. Der für Deutschland relevante Börsenstrompreis ist zeitweise auf über 600 Euro pro Megawattstunde geschossen. Das bedeutete: „Obwohl ein Großteil der Nachfrage mit günstigeren Energieträgern gedeckt wurde, setzte das letzte gebrauchte Kraftwerk den Preis. Diesen erhalten auch Anbieter, die die Stromnachfrage mit günstigeren Rohstoffen decken können.“ Die Folge waren Übergewinne, die durch die hohen Gaspreise entstanden sind. Die Auswirkungen dieser Energiepreiskrise auf Produktion und Inflation sind deutlich spürbar gewesen – teilweise bis heute.
Ein Gegenbeispiel liefert Spanien mit der sogenannten „Iberischen Ausnahme“. Die spanische Regierung griff 2022 ein und setzte das Merit-Order-Prinzip teilweise außer Kraft, indem sie den Preis für Erdgas, das für die Verstromung genutzt wird, auf zunächst 40 Euro pro Megawattstunde deckelte. Die Differenz zwischen dem Preisdeckel und dem tatsächlichen Erdgaspreis wurde durch einen zumeist sehr kleinen Preisaufschlag an der Strompreisbörse kompensiert.
„Der Iberische Mechanismus war ein Erfolg in mehrfacher Hinsicht“, so Bauermann. Die Strompreise seien deutlich gesunken und blieben weit unter den Preisausschlägen in Deutschland und anderen Ländern Europas. Dadurch wurde auch die Inflationsrate Spaniens merklich gedämpft. Zudem seien die Übergewinne am Strommarkt deutlich begrenzt worden.
Obwohl auch der Iberische Mechanismus nicht frei von Bedenken sei – etwa durch mögliche erhöhte Stromimporte anderer Länder –, zeige er doch, dass staatliche Eingriffe sinnvoll und notwendig sein können. Eine Studie der österreichischen Energieagentur für die österreichische Arbeiterkammer habe sogar einen intelligenten EU-weiten Mechanismus vorgeschlagen, der Preisschübe durch Merit-Order-Effekte innerhalb der EU deutlich begrenzen könnte.
Für vulnerable Gruppen gebe es ebenfalls Möglichkeiten, die Strompreise abzufedern. So erlaubt die EU explizit staatliche Maßnahmen bis hin zu regulierten Preisen für einkommensschwache Haushalte. Ein Zuschuss für ein Verbrauchskontingent, wie es in Griechenland praktiziert wird, könnte auch in Deutschland eingeführt werden. „Die Differenz zu den tatsächlichen Kosten könnte für eine bestimmte Zeit subventioniert werden“, schlägt Bauermann vor.
Ein weiteres Konzept sei der von Tom Krebs vorgeschlagene „Brückenstrompreis“. Dieser würde für energieintensive Unternehmen, Haushalte und kleinere Unternehmen eine zeitlich befristete Strompreisgarantie ermöglichen. „Die Strompreisgarantie sollte für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs gelten“, so Bauermann. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen Preis und dem Brückenstrompreis würde subventioniert werden. Zudem könnte der Brückenstrompreis Anreize für die Dekarbonisierung der Produktion setzen, da er Akteuren Sicherheit hinsichtlich der Strompreisentwicklung gebe.
„Unklar ist allerdings, wie dieser ausgestaltet werden soll“, räumt Bauermann ein. Doch eines steht fest: Der Markt allein hat versagt. Es ist an der Zeit, dass der Staat eingreift, um die Strompreise fair zu gestalten und die Gesellschaft vor den Auswirkungen eines unregulierten Marktes zu schützen.