- von Francesca Landini und Pietro Lombardi und Mohi Narayan und Arathy Somasekhar
Mailand/Neu Delhi/Houston, 21. Jul (Reuters) - Europas petrochemische Industrie gerät zunehmend ins Wanken. Nach Jahren sinkender Margen und einem rasanten Ausbau neuer Anlagen in Übersee – allen voran in China – sieht sich die Branche mit einer Welle von Anlagenschließungen konfrontiert. Hohe Produktionskosten und veraltete Werke setzen den Herstellern zu. In der Folge wächst die Abhängigkeit vom Importen zentraler Basischemikalien wie Ethylen und Propylen, den Bausteinen für Kunststoffe, Medikamente und unzählige industrielle Produkte. "Während der Rest der Welt über 20 neue Cracker baut, schlittert Europa schlafwandelnd in den industriellen Niedergang", so Jim Ratcliffe, Gründer des britischen Chemiekonzerns IneosINEOSE.UL, kürzlich bei einer Branchenveranstaltung.
Die Industrie wirft der Politik Untätigkeit vor. Nun reagiert die EU-Kommission mit einem Versprechen: Sie will die Produktion strategisch wichtiger Chemikalien wie Ethylen und Propylen im Binnenmarkt stützen. Geplant sind unter anderem ausgeweitete Beihilfen für die Modernisierung von Anlagen sowie neue Regeln bei öffentlichen Ausschreibungen, die europäischen Produkten Vorrang geben sollen – angelehnt an bestehende Vorgaben für Metalle und Mineralien.
Doch für viele kommt das zu spät. "Man kann nicht an Bord der Titanic bleiben und hoffen, dass nichts passiert. Man muss losgehen und ein Rettungsboot finden", sagt Giuseppe Ricci, Leiter der industriellen Transformation beim italienischen Energiekonzern EniENI.MI. Dessen Chemietochter Versalis hat in den vergangenen fünf Jahren über drei Milliarden Euro Verlust gemacht - unter anderem wegen hoher Energiekosten, gesunkener Nachfrage und des Drucks durch die Konkurrenz aus dem Nahen Osten und Asien. Laut Eni steckt der europäische Markt für Basischemikalien in einem "strukturellen und unumkehrbaren Niedergang". Nun schließt das Unternehmen Italiens letzte zwei Steamcracker und investiert stattdessen rund zwei Milliarden Euro in Bioraffinerien und chemisches Recycling.
Auch andere große Konzerne wie DowDOW.N, ExxonMobil, TotalEnergiesTTEF.PA und ShellSHEL.L überprüfen ihre europäischen Chemieanlagen oder ziehen sich zurück. Im Zentrum der Schließungen stehen vor allem Cracker, also jene Anlagen, die aus fossilen Rohstoffen Ethylen, Propylen und andere Grundstoffe herstellen. Laut einem internen Papier von acht EU-Staaten aus dem März könnten durch die Stilllegung weiterer Cracker bis 2035 rund 50.000 Arbeitsplätze in Europa gefährdet sein.
Auch der weltgrößte Chemiekonzern BASFBASFn.DE kämpft in seinem Stammwerk Ludwigshafen mit den Folgen hoher Energiekosten und des weltweiten Überangebots an Basischemikalien. Rund 80 Prozent der Anlagen dort sind nach Unternehmensangaben zwar wettbewerbsfähig – auch gegenüber Importen. Doch bei etwa einem Fünftel sieht der Konzern kurz- bis langfristig wirtschaftliche Risiken. BASF prüft deshalb seit einiger Zeit die Schließung weiterer Anlagen. Die beiden Steamcracker, die zu den größten Produktionsanlagen in Ludwigshafen zählen und das Herzstück des Werks bilden, stehen aber nicht zur Disposition.
ALTE ANLAGEN, TEURE ROHSTOFFE
Ein Großteil der europäischen Anlagen ist klein oder mittelgroß und läuft mit niedriger Auslastung – im Schnitt unter 80 Prozent, was laut Branchenexperten als unwirtschaftlich gilt. Bis zu 40 Prozent der Ethylenkapazitäten in der EU – insgesamt rund 24,5 Millionen Tonnen – gelten laut dem Beratungsunternehmen Wood Mackenzie als stilllegungsgefährdet oder sind bereits zur Schließung angekündigt. "Der Anteil gefährdeter Cracker in Europa ist deutlich höher als in anderen Regionen", sagt Robert Gilfillan, Marktleiter für Kunststoffe und Recycling bei Wood Mackenzie.
Ein Grund: Während europäische Anlagen mit dem teureren Rohstoff Naphtha arbeiten - nicht zuletzt, weil Ethan hierzulande kaum verfügbar ist und die Infrastruktur auf Naphtha ausgelegt wurde - setzen Wettbewerber in den USA und im Nahen Osten auf Ethan, ein günstigeres Nebenprodukt aus der Schiefergasförderung. Laut einer Präsentation von Eni vom März kostet die Produktion einer Tonne Ethylen in Europa mit Naphtha rund 800 Dollar – in den USA mit Ethan sind es weniger als 400 Dollar, im Nahen Osten sogar nur rund 200 Dollar.
Zugleich rüstet die Konkurrenz auf: Laut ADI Analytics soll die Ethylenproduktion in Nordamerika bis 2030 von derzeit 54 auf 58 Millionen Tonnen steigen. China, der größte Treiber des globalen Ausbaus, will seine Kapazitäten zwischen 2025 und 2030 jährlich um 6,5 Prozent erhöhen – auf dann fast 87 Millionen Tonnen jährlich. Das wäre mehr als das Dreifache der derzeitigen EU-Kapazität.
Zudem verlagern chinesische Hersteller Teile ihrer Produktion nach Südostasien, um von dort nach Europa und Nordamerika zu exportieren und so CO2-Steuern und westliche Zölle auf in China hergestellte Waren zu umgehen. Im Nahen Osten entsteht derweil ein neuer Großkonzern: Der österreichische Ölkonzern OMVOMVV.VI und sein arabischer Kernaktionär AdnocADNOC.UL schließen ihre beiden Petrochemietöchter zur Borouge Group International zusammen – künftig einer der größten Polyolefinhersteller weltweit, der direkt auf den europäischen Markt zielt.
Europas Entscheidungsträger stehen nun vor einer Grundsatzfrage: Eingreifen oder zusehen, wie ein zentrales industrielles Standbein weiter bröckelt. In einem Papier vom März fordern Länder wie Frankreich, Italien und Spanien einen "Critical Chemicals Act". Die EU war jüngsten Daten zufolge zwischen 2019 und 2023 durchgehend Nettoimporteur von Ethylen und Propylen. EU-Binnenmarktkommissar Stéphane Séjourné kündigte an, strategisch wichtige Produkte und Produktionsstätten identifizieren zu wollen. "Es geht vor allem um Souveränität – um den Erhalt unserer Steamcracker", sagt er.
Doch die Herausforderungen sind groß. Viele Anlagen in Europa sind über 40 Jahre alt – in China liegt das Durchschnittsalter bei elf Jahren, wie Citi-Analyst Sebastian Satz betont. Einige Unternehmen setzen dennoch auf den Standort Europa. So baut INEOS in Antwerpen einen vier Milliarden Euro teuren Ethancracker – den ersten neuen Cracker in Europa seit rund 30 Jahren mit einer Produktionskapazität von 1,45 Millionen Tonnen Ethylen pro Jahr.
Branchenkenner erwarten, dass die europäische Petrochemie zwar nicht völlig verschwinden wird – wohl aber konsolidiert. "Nur große europäische Unternehmen mit ausreichendem Marktanteil, um wettbewerbsfähige Preise zu setzen, werden weiterhin Ethylen herstellen", urteilt Enzo Baglieri, Professor für Produktions- und Technologiemanagement an der SDA Bocconi School of Management in Mailand.